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Welt-Adipositas-Tag Das Stigma der vielen Pfunde: Adipositas, die missverstandene Volkskrankheit

Schlanke Frau versus übergewichtiger Mann
Ist Adipositas ein Karriereblocker? In einer Umfrage gaben 86 Prozent der Teilnehmer an, dass sie davon ausgehen, dass Menschen mit Übergewicht es schwerer haben, Karriere zu machen.
© John Greve / Picture Alliance
Adipositas ist eine Volkskrankheit. Fast jeder fünfte Mensch in Deutschland ist stark übergewichtig und es werden immer mehr. Von einer stigmatisierten Krankheit und überschätzten Diäten.

Ich bin groß wie ein Fingerhut und wiege kaum mehr als eine Feder. Das war schon immer so. Und das hat auch schon immer für ungenierte Blicke und Gesprächsstoff gesorgt. Da gab's die, die mir im Restaurant mit den Worten "Iss' mal was" eine Brotstange vor die Nase hielten und andere, die meinem Körper Liebeslieder schrieben. Als Teenie war das alles nervig, sorgte dafür, dass ich überaß, um ein bisschen mehr zu werden und dazu, dass ich, also das Streichholzbein, im Sommer nur lange Hosen trug.

Dann kam das Jahr, indem ich sie traf, die alle nur Miss Piggy nannten.

Ihr wurden die Brotstangen aus der Hand genommen, die man mir reichte. Dabei aß sie wenig, machte viel Sport. Trotzdem war sie dick und wurde immer dicker. Sie sammelte Kilos aus nichts. Und jeder, wirklich jeder hatte auch zu ihrem Körper etwas zu sagen, einen guten Tipp und eine LKW-Ladung Vorurteile parat. Hinter vorgehaltener Hand wurde sie fett genannt, faul, kontrolllos. 

Wir hatten miteinander gemein, dass unsere Körper andere provozierten. Vergleichbar war unsere Situation aber nie. Denn während ich immer nur ein bisschen schlanker als andere war, hatte sie ein ernsthaftes Problem. Das wusste sie und irgendwann kapierte auch ich, wie anmaßend und dumm es war, unsere Erfahrungen zu vergleichen. Und noch etwas anderes hatte sie schon früh verstanden – dass Adipositas eine Krankheit und kein Vergehen ist. 

Adipositas, wenn Diäten nichts mehr bringen

Adipositas bedeutet so viel wie starkes Übergewicht, wird aber auch als Fettsucht bezeichnet. Wer betroffen ist, sieht sich nicht nur mit Vorurteilen konfrontiert und dem Stigma selbst am Körpergewicht Schuld zu sein, sondern auch mit der Möglichkeit drohender gesundheitlicher Einschränkungen. Bei Adipositas geht es um Fettpolster, die eben nicht durch ein bisschen Disziplin und Verzicht abgebaut werden können. Zumindest nicht so, wie das bei "Gesunden" möglich ist.

Ärztin Sylvia Weiner
Sylvia Weiner, Chefärztin der Klinik für Bariatische und Metabolische Chirurgie am Krankenhaus Nordwest in Frankfurt am Main.
© Sylvia Weiner

"Adipositas ist eine übermäßige Fettvermehrung, die wir mittlerweile als Symptom einer chronisch-entzündlichen Stoffwechselerkrankung verstehen und bewerten können", so Sylvia Weiner, Chefärztin der Klinik für Bariatische und Metabolische Chirurgie am Krankenhaus Nordwest in Frankfurt am Main. Und: "Diäten reichen für diese Menschen nicht mehr aus." Die Ursachen eines “krankhaften” Übergewichtes seien mannigfaltig und seien erst in den letzten zehn Jahren zunehmend erforscht worden. "Neben genetischen Aspekten, spielen eine energiereiche Ernährung und zu wenig Bewegung in unserer zivilisierten Welt eine Rolle bei der Entstehung der Erkrankung", so die Ärztin. 

Fast jeder Fünfte von Adipositas betroffen

Laut Robert Koch-Institut (RKI) sind in Deutschland 54 Prozent der Menschen von Übergewicht betroffen, beinahe jeder Fünfte (18,1 Prozent) sogar schwer übergewichtig. Und es werden immer mehr. Allein in der Altersgruppe der 5- bis 19-Jährigen habe sich die Zahl von übergewichtigen oder gar fettleibigen Kindern laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwischen 1975 und 2016 von 4 auf 18 Prozent mehr als vervierfacht. Zudem steigt mit zunehmendem Alter sowohl bei Frauen als auch bei Männern die Prävalenz von Übergewicht und/oder Adipositas an, so das RKI. 

Von Adipositas wird gesprochen, wenn der berühmte Body Mass Index (BMI) größer 30 kg/m² ist. "Eine willkürliche Einteilung durch amerikanische Versicherungsgesellschaften Ende des letzten Jahrhunderts", erklärt Weiner. "Auch ein Arnold Schwarzenegger hätte sicherlich in seinen besten Jahren einen BMI > 30 kg/m² gehabt, ohne natürlich adipös zu sein … ." 

Auch die WHO ordnet Adipositas als chronische Erkrankung ein, die eine langfristige Behandlung erfordert und schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben kann. Dazu gehört eine verringerte Lebenserwartung. So gehören zu den Folgeerkrankungen von Adipositas unter anderem Typ-2-Diabetes mellitus, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Leiden, Fettleber und Fettgewebestörungen. Wie hoch das Risiko der Betroffenen für eine solche Folgeerkrankung ist, ist auch davon abhängig, wie sich das Fett am Körper verteilt. So liege es bei Menschen mit bauchbetonter Adipositas höher als bei Betroffenen mit Fettpolstern an Beinen und Gesäß, informiert das Integrierte Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Adipositas-Erkrankungen der Universitätsmedizin Leipzig. 

Noch immer viele Vorurteile

Das Körpergewicht wird durch hormonelle Steuerungsmechanismen reguliert. Bei Adipositas kommt es zu einer Fehlregulation dieser Steuerkreise. "Der Körper ist nicht in der Lage auf einen zu hohen Energiehaushalt richtig zu reagieren, Signale werden dauerhaft falsch im Körper gesendet", erklärt Weiner. Als Folge verschiebe sich der sogenannte Body-Set-Point im Körper, der Teufelskreis beginne. Der Körper interpretiere seinen Körperfettanteil als normal und reagiere auf reduzierte Kalorienzufuhr mit einem verminderten Grundumsatz – "als Gegenmaßnahme, um salopp gesagt 'nicht zu verhungern'".

Der Körper benötigt also immer weniger Kalorien für die täglichen Überlebensfunktionen wie Atmung, Arbeit der Organe und die Regelung der Körpertemperatur. Und: Bei Menschen mit Adipositas schlagen Maßnahmen wie Diäten und Sport, die bei Gesunden greifen, weniger gut an. Weiner erklärt: "Nur der Eingriff in die grundlegenden Stellschrauben des Body-Set-Points, also in den Bereich der Steuerungshormone, helfen diesen Teufelskreis zu durchbrechen." Inzwischen stehen eine Vielzahl von wirksamen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, die je nach individuellen Eigenschaften und dem Schweregrad der Adipositas eingesetzt werden können. Dazu gehören auch operative Eingriffe.

In der öffentlichen Wahrnehmung ist das aber noch immer nicht richtig angekommen, wie eine aktuelle Studie verdeutlicht. Befragt wurden im Auftrag des Pharma-Unternehmens NovoNordisk 1000 Menschen in Deutschland. Dabei zeigte sich, dass obwohl 74 Prozent der Befragten wussten, dass es sich bei Adipositas um eine anerkannte Krankheit handelt, die Ursachen hauptsächlich im Verhalten der übergewichtigen Person gesehen werden, etwa in falscher Ernährung (82 Prozent), Bequemlichkeit (55 Prozent) und Disziplinlosigkeit (50 Prozent). Gleichzeitig sagte beinahe die Hälfte der Befragten (45 Prozent) aus, Mitleid mit übergewichtigen Menschen zu empfinden, neun Prozent sprachen gar von Ekel.

Quelle: RKI, IFB, WHO

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