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Stiller Sinnverlust Leben im Lückentext: Warum schwerhörige Menschen sich oft isolieren – und was hilft

Eine Frau hält sich fragend eine Hand hinter ihr Ohr.
Viele Menschen sind schwerhörig, ohne es zu wissen. 
© SIphotography / Getty Images
Wir hören zu laute Musik und arbeiten ohne Hörschutz – und laufen damit Gefahr, schwerhörig zu werden. Was das für das eigene Leben bedeutet, weil Niklas Spichalsky ganz genau. Der 30-Jährige lebt seit seiner Kindheit mit Schwerhörigkeit. Im Gespräch mit dem stern erzählt er, wie sich das anfühlt. 

Eine aktuelle Studie zeigt: Viele junge Menschen laufen Gefahr, schwerhörig zu werden, weil sie zu laut Musik hören und nicht gut genug auf ihren Hörsinn aufpassen. Sie haben mit "MySecondEar" einen Online-Akustiker gegründet. Woran macht sich eine Schwerhörigkeit denn eigentlich bemerkbar?

Niklas Spichalsky: Viele vergleichen Schwerhörigkeit gerne mit einer Sehbeeinträchtigung wie zum Beispiel Kurzsichtigkeit. Wenn du kurzsichtig bist, siehst du in die Ferne einfach schlecht. Bei Schwerhörigkeit ist das allerdings anders, es geht nicht um die Entfernung oder Lautstärke. Wer schwerhörig ist, der hört alles wie eine Art Lückentext und muss sich dadurch die ganze Zeit sehr konzentrieren, um sich die Lücken irgendwie herzuleiten. Das äußert sich bei jedem ein bisschen anders, aber wenn ich mein Hörgerät nicht drin habe, dann kommt es mir so vor, als wenn alle um mich herum nuscheln.

In welchen Alltagssituationen stoßen schwerhörige Menschen auf die größten Barrieren?

Das fängt schon an, wenn mich jemand von der Seite anspricht oder sehr schnell redet. Schwerhörige brauchen manchmal ein bisschen länger, um Gesagtes zu verstehen, was manchmal zu Unverständnis führt. Laute Hintergrundgeräusche und das Tragen eines Mundschutzes während der Pandemie waren auch Faktoren, die die Kommunikation erschwert haben. Einfach, weil man als Schwerhöriger sehr auf Mimik und Gestik angewiesen ist.

Warum Menschen schwerhörig werden

Schwerhörigkeit betrifft rund 16 Millionen Menschen in Deutschland, die Dunkelziffer wird noch höher geschätzt. Wie kommt es, dass so viele Menschen betroffen sind?

Vor allem junge Leute hören zu laut Musik, besuchen zu laute Musikkonzerte und stehen im Club direkt vor den Boxen. Wer sich fünf Minuten in einer Zone befindet, in der zu laute Geräusche sind, der hat seinen Hörsinn schon unwiderruflich geschädigt. Trotzdem ignorieren viele Menschen die Gefahr. Selbst bei lauten Straßenarbeiten oder in Produktionsstätten wird noch viel zu oft auf den Hörschutz verzichtet. Man kann eigentlich davon ausgehen, dass diejenigen, die die Ohrenschützer nicht aufsetzen, alle bereits schwerhörig sind.

Gibt es denn abgesehen von zu lauten Geräuschen noch andere Ursachen für Schwerhörigkeit?

Stress ist natürlich auch ein Risikofaktor. Wir wissen heute, dass zu viel Stress unseren Hörsinn schädigen kann bis hin zum Hörsturz. Und es gibt eine genetische Komponente.

Niklas Spichalsky ist Gründer des Online-Akustiker "MySecondEar". Er selbst trägt seit seiner Kindheit Hörgeräte und weiß genau, auf welche Hürden Schwerhörige damit stoßen. Deshalb setzt er sich aktiv für mehr Nachhaltigkeit und Komfort für die Träger ein – und gegen das Stigma, das Schwerhörige immer noch betrifft. 
Niklas Spichalsky ist Gründer des Online-Akustiker "MySecondEar". Er selbst trägt seit seiner Kindheit Hörgeräte und weiß genau, auf welche Hürden Schwerhörige damit stoßen. Deshalb setzt er sich aktiv für mehr Nachhaltigkeit und Komfort für die Träger ein – und gegen das Stigma, das Schwerhörige immer noch betrifft. 
© mysecondear

Trotz der hohen Betroffenenzahl wird Schwerhörigkeit in der Breite der Gesellschaft kaum thematisiert. Warum?

Ich denke, es fehlt vor allem an Aufklärung. Vielen Menschen ist einfach nicht klar, welchen Impact ihr heutiges Verhalten auf ihren Hörsinn im Alter haben kann. Ich meine, sie verlieren ja wirklich einen kompletten Sinn, der auch nicht wiederkommt. Zwar kann man mit Hörgeräten oder Cochlea Implantaten gegensteuern, trotzdem verändert es das Leben dauerhaft.

Was Angehörige von Schwerhörigen beachten sollten

Sie sind mittlerweile 30 Jahre alt und seit Ihrer Kindheit schwerhörig. Wie beeinflusst das Ihr Leben?

Meine ganze Familie ist schwerhörig, deshalb ist mir das selbst erst recht spät wirklich bewusst geworden. In der Schule habe ich die Sachen aber immer langsamer verstanden als meine Mitschüler. Dadurch konnte ich auch erst später reagieren. Wenn jemand zum Beispiel einen Witz gemacht hat, habe ich erst später gelacht als alle anderen, weil ich die Lücken erst füllen musste. Dadurch wirkt man im Zweifel halt eher dumm, statt schwerhörig.

Heute haben Sie ein modernes Hörgerät, das Ihnen solche Erlebnisse erspart. Wie blicken Sie heute auf Ihre Kindheit zurück?

Rückblickend war das natürlich eine Zeit, in der ich es aufgrund noch nicht so guter Hörgeräte unnötig schwer hatte. Dadurch, dass ich meine gesamte Brainpower dafür nutzen musste, das Gesagte zu verstehen, hatte ich weniger Kapazität für das Inhaltliche.

Und wie leben Sie heute mit der Schwerhörigkeit?

Ich habe mich sehr gut damit zurechtgefunden. Dadurch, dass ich noch jung bin, kann ich das ganz gut kompensieren und dank meines Hörgeräts hat sich das alles normalisiert. Viele Schwerhörige im Alter isolieren sich allerdings und ziehen sich wegen der Kommunikationsbarrieren zunehmend in ihre eigene Welt zurück. Einsamkeit und Depressionen sind da auch ein großes Thema. Wer sich ständig missverstanden fühlt, der hat dann mitunter auch Probleme mit seinem Selbstwertgefühl und resigniert irgendwann.

Wie kann ich als Angehöriger denn dabei helfen, dass Schwerhörige sich nicht isoliert fühlen?

Das Wichtigste ist definitiv Aufmerksamkeit. Darauf zu achten, dass sich der Schwerhörige mitgenommen fühlt und die Person aktiv ins Gespräch mit einzubeziehen, hilft enorm. Außerdem sollte man am besten nicht von der Seite mit ihm sprechen, sondern von Angesicht zu Angesicht – und klar und deutlich. Wenn Schwerhörige etwas nicht verstehen, hilft es außerdem, den Satz einfach umzuformulieren, statt ihn zu wiederholen.

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Wie Hörgeräte das Leben verändern 

Sie beschreiben den Moment, als Sie mit 24 Jahren Ihr erstes modernes Hörgerät bekommen haben, als “lebensverändernd“. Warum?

Ich konnte plötzlich wirklich alles hören. Dadurch wurde ich an der Universität leistungsfähiger und bin auch selbstbewusster im Privatleben geworden. Deshalb habe ich mich auch beruflich in diese Richtung entwickelt. Ich wollte Hörgeräte so praktisch und smart machen, wie möglich. Heute können die Geräte sich mit dem Smartphone verbinden, Musik abspielen, mir das Wetter ansagen und ich kann damit telefonieren. Das ist doch einfach cool.

Und trotzdem tragen viele Schwerhörige kein Hörgerät…

Ja, weil viele es entweder nicht wissen oder nicht wahrhaben wollen, dass sie schwerhörig sind. Man muss sich das mal vorstellen: Da laufen tausende Menschen rum, die nicht gut genug hören und dadurch unter ihrem eigentlichen Potenzial bleiben. Sie stellen dann lieber den Fernseher lauter oder fragen dreimal nach, wenn sie Wortfetzen eines Gesprächs nicht verstehen. Dabei sind das Warnsignale. Und man könnte es mit einem Hörgerät so viel einfacher haben.

Hört man denn mit einem Hörgerät dann wieder "normal"?

Das kommt darauf an, wie lange man schwerhörig war, ohne ein Hörgerät zu nutzen. Wenn ich zum Beispiel fünf Jahre im Rollstuhl gesessen habe, dann laufe ich auch nicht direkt einen Marathon. Es dauert also, bis sich die Sinne daran gewöhnen. Manchmal ist es auch so, dass das Gehirn gewisse Frequenzen bereits vergessen hat, weil sie zu lange nicht genutzt wurden. Die kommen dann auch durch das Hörgerät nicht wieder.

Was empfehlen Sie denn Menschen, die jetzt denken: “Mist, ich glaub, ich bin schwerhörig“?

Der erste Schritt ist definitiv ein Hörtest, den man beim Hals-Nasen-Ohrenarzt oder beim Akustiker machen kann. Der gibt einem erstmal Gewissheit. Und dann – ganz klar – ein Hörgerät.
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